Analphabetismus und Legasthenie – ein Plädoyer Analphabetismus und Legasthenie – ein Plädoyer

1. Oktober 2025

Analphabetismus und Legasthenie – ein Plädoyer

Bevor ich die Geschäftstexte einer Kundin bearbeiten sollte, teilte sie mir mit, sie habe eine Legasthenie. Ein solcher Hinweis ist für mich als Lektorin hilfreich. Ansonsten hätten mich die ungewöhnlich vielen Fehler in Rechtschreibung und Grammatik überrascht. Sie war selbstbewusst, üblich ist das jedoch nicht. Legasthenie ist wie Analphabetismus gesellschaftlich geächtet, Betroffene schämen sich häufig für ihre Schwäche – zu Unrecht.

01.Oktober 2025

Analphabetismus und Legasthenie – ein Plädoyer

Bevor ich die Geschäftstexte einer Kundin bearbeiten sollte, teilte sie mir mit, sie habe eine Legasthenie. Ein solcher Hinweis ist für mich als Lektorin hilfreich. Ansonsten hätten mich die ungewöhnlich vielen Fehler in Rechtschreibung und Grammatik überrascht. Sie war selbstbewusst, üblich ist das jedoch nicht. Legasthenie ist wie Analphabetismus gesellschaftlich geächtet, Betroffene schämen sich häufig für ihre Schwäche – zu Unrecht.

Analphabeten und Menschen mit Legasthenie gehören zu zwei verschiedenen Gruppen. Was sie verbindet: Sie können nicht, wenig oder nur mit Mühe lesen und schreiben. Unterstützung bieten ihnen neue Softwarelösungen mit Vorlesefunktion und Spracherkennung.

Analphabeten – die illiterati von heute

Wie Analphabeten ihren Alltag meistern, kann sich vermutlich keiner vorstellen, der sich völlig selbstverständlich lesend zu Hause, unterwegs oder im Beruf bewegt. Allein die digitale Kommunikation via Computer und Mobiltelefon erfordert Lesen und Schreiben. Bis ins europäische Hochmittelalter konnten vorwiegend Mönche im Skriptorium eines Klosters oder einer Domschule lesen und schreiben, die literati. Andere Menschen konnten es nicht, die illiterati. Sie waren aber in der Lage, Erzählungen lange Zeit konzentriert zuzuhören, und besaßen ein phänomenales Gedächtnis. Nur so ist eine zunächst mündliche Literaturtradition zu erklären. Über 6 Millionen Erwachsene in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben. Für die Hälfte von ihnen ist Deutsch ihre Muttersprache. 62,3 Prozent der Betroffenen sind trotz ihrer Lese- und Rechtschreibschwäche durchaus berufstätig. Ich vermute bei ihnen ähnliche gut ausgeprägte Fähigkeiten wie einst bei den illiterati.

Ursachen für ein Defizit beim Lesen und Schreiben

Ursachen für Analphabetismus können vielfältiger Art sein: Wenn Kinder beispielsweise mit Büchern aufwachsen und Eltern sie ihnen vorlesen, dann gehören Geschichten, Bilder und Texte zum Leben der Familie. Doch wenn Eltern keinen Bezug zu Büchern haben, fehlt er auch ihren Kindern. Das kann allerdings nur ein Grund unter anderen sein.

Manche von ihnen können dem Schulunterricht nicht folgen, weil sie wegen Krankheit längere Zeit gefehlt haben oder weil es zu Hause für sie schwierig ist, in Ruhe Hausaufgaben zu machen. Auch häufige Schulwechsel können eine Ursache für Lernschwierigkeiten beim Lesen und Schreiben sein. Irgendwann können sie den Rückstand nicht mehr aufholen, wenn Eltern sie dabei nicht unterstützen. Manche Schüler tun sich auch einfach so schwer mit dem Lernen.

Angeborene Legasthenie

Bei Menschen mit Legasthenie sieht die Sache anders aus. Sie haben als Kinder keine Schwierigkeit, dem Unterricht zu folgen, und lernen gut. Aber aufgrund einer Genveränderung ist ihr Gehirn nicht in der Lage, die über die Augen wahrgenommenen Zeichen, die Buchstaben, zu verarbeiten und zu Wörtern mit einem Sinn zu verbinden. Umgekehrt können sie aus diesem Grund auch nicht ohne Weiteres schreiben und produzieren dabei viele Fehler. Oftmals ist zudem die Hörverarbeitung beeinträchtigt sowie die auditive Verarbeitung von Wörtern eingeschränkt, was ebenfalls zu vermehrten Fehlern führen kann. Mit mangelnder Intelligenz oder Faulheit, wie viele irrtümlich denken, hat das nichts zu tun. Die Liste berühmter Legastheniker ist lang, hier nur wenige: Albert Einstein, Charles Darwin, Bill Gates, Jamie Oliver, Tom Cruise, Mark Zuckerberg, Keira Knightley. Und in Schweden hat König Carl Gustav die Legasthenie gleich an alle seine drei Kinder vererbt.

Kein Grund, sich zu schämen!

In Deutschland hat Bildung einen besonders hohen Stellenwert. Das ist zwar erfreulich, bringt aber auch unangenehme Aspekte mit sich, wenn Gebildete vermeintlich Ungebildeten mit Arroganz und Herablassung begegnen. Das ist häufig der Fall. Daher plädiere ich dafür, Analphabeten wie Legastheniker unkompliziert zu unterstützen, anstatt sie auszulachen oder die Nase zu rümpfen.

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